Die Kunst des Aufgebens

...um sich selbst nicht aufzugeben.

Ja, jetzt hat sie leicht reden, sitzt da – neuer Job, neue Wohnung, neues Leben. Wieder mittendrin statt nur dabei. In einem Unternehmen. In der Industrie. Mit Stechuhr und Überstunden abfeiern. Mit Urlaubs- und Weihnachtsgeld. Mit für ihr Alter gar nicht mal allzu schlechtem Stundenlohn. Man siezt sich hier. Man trinkt nicht literweise Bier an verregnet, verrauchten Freitagfeierabenden. Man muss nicht aufgesetzt zusammenhalten. Sind nicht alle dicke Freunde und platzen vor lauter wow, was wie krass Hipp du bist und ja am Wochenende Rave. Safe.
Nein, denn genau das musste ich aufgeben, um mich nicht aufzugeben.
Kein Agenturlifestyle im hippen Großraumbüro. Windows statt Mac. Filterkaffee statt fancy Latte mit Zimt und Sternstaub. Hier Chef, nimm meine Träume und Asche auf mein Haupt, mein Privatleben natürlich auch. Wobei Privatleben im hippen Start-Up Style eher ein Running Gag geworden ist. Fast so lustig wie das Wort Überstunden und Gehalt. Denn wenn der Kumpel-Chef was fragt, wagt sich keiner und sagt nein. Wir sind doch alle Freunde und helfen einander. Voll ok, dass alle fast nix und der Kumpel-Chef fast alles verdient. Soll ich Dir was verraten? Nein, ist es nicht.
Das Leben ist nämlich nicht, sich mit Mitte20 morgens eine Line, aus, mit der überzogenen Kreditkarte gehackten, längst geplatzten Träumen, zu legen, weil der Kaffee einen schon lange nicht mehr wachhält.
Wer klopft Dir denn auf die Schulter dafür, dass Du Deinen angeblichen Traumjob hast. Dass Du dich kaputt arbeitest, dass Du alles aufs Spiel setzt – nur für den Job, die Karriere, das Leben von dem Du immer geträumt hast. Niemand sagt am Ende, wow – Herzinfarkt mit 31, Respekt! Oder Hey, wie cool, dass wir wieder zur gleichen Zeit den Entzug machen – bis nächstes Jahr dann! Wer sagt Dir, dass das Dein Leben sein soll? Und war das Dein Traum? Viel zu lang redest Du Dir das jetzt schon ein. Ich wollte das. Ich muss mir nur jetzt den Arsch aufreißen, dann wird alles besser. Im nächsten Urlaub, werde ich nicht dauerhaft erreichbar sein. Wenn ich das nächste Mal krank bin geh ich nicht doch schnell ins Büro oder mach wenigstens Home-Office. Es wird weniger Stress. Es wird bald gut. Oder wenigstens besser. Spoileralarm: Wird es nicht.
Irgendwann habe ich mich irgendwo zwischen Firmentischkicker und gemeinsamem Feierabendbier selbst verloren.
Hab mich zusammengefaltet zum Altpapier gelegt, weil wir ein papierloses Büro sind. Hab mich an der Wand mit den Ideen und vielen bunten Post-Its aufgehängt, einen bunten Kreis um mich gemalt und dem Grafiker zum Umdesignen gegeben. Scheint zu klappen – so fahr ich freudestrahlend auf meinem Rennrad ins Büro, hab die Skinny-High Waist Jeans lässig über den Fußknöchel hochgekrempelt, weiße Sneaker, Levis-Shirt – fertig. Mein zotteliger Dutt bildet den perfekten Kontrast zum knallroten Lippenstift und dem perfekt gezogenen Eyeliner, zum Glück sieht keiner, wie ich heute ins Bad gekrochen bin. Heulend mit zittrigen Knien, aber was zählt ist das: Das toughe junge Ding, dem die Welt offensteht. Jede Tür. Die rosigste Zukunft. Und ein tiefer Fall.
Der Fall: Ich bin einfach aufgewacht und war kaputt. Die komplette Resignation. Die weiße Fahne als letztes Hemd. 
Ich war seit schätzungsweise 3 Jahren ständig – im besten Fall nur – betrunken. Hier ein Event, da eine lässige WG-Party mit Kollegen, hier ein Rave da irgendwo am Weiher gegrillt oder doch im Club bis weit nach der Afterhour. Die Sonnenbrille war festgewachsen – der Kater kam gar nicht zum Vorschein. Weggesperrt bevor er leise aufmiauen konnte. Ich war fest davon überzeugt, dass das später mal die gute alte Zeit sein wird und hatte keine Ahnung wie falsch ich damit liegen sollte. Nur damit wir uns nicht falsch verstehen: Missen will ich die Zeit nicht. Keine Sekunde. Keinen Menschen. Kein noch so wahnsinniges Gefühl. Und vor allem nicht die Lehre, die ich daraus ziehen darf. 
Denn was der Maestro sagt ist Gesetz, begreift man nur leider immer erst eine Party zu spät. Alsors on sort pour oublier tous les problèmes. Alors on danse. 
Feiern. Laute Musik. Drogen. Alkohol. Das Spiel mit der Sucht und dem Schlafentzug. Das Jonglieren mit erwachsenem Verfall und kindlichem Leichtsinn. Das Augenzumachen vor allem was weh tun. Die als Spaß verkleidete Betäubung als Opium für die Generation Y. Probleme? Angst? Nervenzusammenbruch? Haha nein, ich trink ‚ne Flasche Gin und zieh los in die funkelnde Freiheit der Nacht und wenn ich morgen Heim komme ist der Kater schlimmer, als die Angst. Das Runterkommen härter, als die fies grinsende Fratze der Realität und dann ist ja auch eh schon wieder Montag und weiter geht’s. Eine neue Runde, eine neue Wahnsinnsfahrt.  
Es war wieder genauso ein Montag und ich bin einfach nicht aufgestanden. Ich wollte nie wieder aufstehen. Streng genommen wollte ich nie wieder irgendwas. 
Arztbesuche. Zusammenbrüche. Und mittendrin der coole Chef, der einem ohne eine Vorwarnung die Kündigung schickt. Nach 4 Jahren. Der Fall ins bodenlose. Die Chance. Und jetzt die unfassbare Dankbarkeit. Der schlimmste Moment in meiner bis dato noch recht frischen beruflichen Laufbahn wird mir für immer das größte Glück bleiben. Mit Anlauf bin ich aus dem Hamsterrad geflogen und hab mich Stück für Stück aufgerappelt, zusammengeflickt und runtergeholt. Ich habe zum ersten Mal seit 10 Jahren wieder bewusst geatmet, gegessen, keinen Alkohol getrunken. Mein Leben in vollen Zügen genossen. Ja, es hat gedauert. Aber jetzt sitz ich hier. 
Schreibe das und grinse. Denk an die Zeit in der ich so wenig von mir selbst wusste, während ich so viel nach Außen darstellen wollte.
Noch nie angekommener, noch nie mehr für etwas bereit, wie für das, was vor mir liegt. Hochzeit. Ehe. Kinder. Alles, was ich angeblich nie wollte und doch so sehr will. Probs gehen raus an meine Zwanziger, dass was ich später doch mal die guten alten Zeiten nenne. Wenn ich das Spießerleben führe, dass ich so unbedingt will. Job nach Stechuhr, trotzdem kreativ. Familie und Garten, trotzdem immer wild und frei. Und den Wein, den trink ich jetzt aus richtigen Weingläsern, denn in Einmachgläsern koch ich Marmelade für meine Freunde von damals. Und wisst Ihr worauf ich mich jetzt schon freue? Auf meine Tochter, die mal Mitte20 ist und die gleichen Fehler macht, mich um Rat fragt und ich ihr sagen kann: Ich weiß Lotta.
 Ich weiß, das willst Du jetzt nicht hören und Du wirst mir auch nicht glauben, aber manchmal muss man etwas aufgeben, um sich selbst nicht aufzugeben.